Erzählsonntag: Vom GENUG SEIN - 22.8.21

Himmelfraugöttinsacklzement! Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Weil eigentlich hatte sie ja gar keine Zeit. Seit Tagen saß sie vor dieser unüberwindbaren Mauer und fummelte an dieser Formulierung herum, die ihr einfach nicht gelingen wollte. Zudem saß ihr ihr Agent im Nacken und erwartete täglich 5000 Zeichen. Das war kein Schreiben mehr, das war Hochleistungssport. Irgendeine olympische Disziplin war das.
Was? Ach, Mist! Ein Gedankenblitz war vorbeigesaust, der sich ziemlich richtig angefühlt hatte. »Du musst unbedingt wieder achtsamer werden«, schalt sie sich, bevor ihre Fingerkuppen wieder nervös auf die Tastatur trommelten.
»Kommst du?« Von draußen drang die Stimme Oma Hollys herein, die Tante Alexandra daran erinnerte, dass heute der fürchterliche Tag war, an dem sie vom PC aufstehen müsste. Zum letzten Mal klickte sie auf Speichern. Da achtete sie drauf! Erst vergangene Woche war ihr der PC mitsamt den bisherigen Zeichen abgestürzt und es hatte Stunden gedauert, bis sie sich durch den Algorithmen-Dschungel gekämpft und den gefährlichen Virus schließlich eliminiert hatte. Danach folgten einige bange Stunden des Wiederaufbaus der Datei, was nicht besonders leicht war, weil die geraden Einsen immer von den runden Nullen fielen.
Dazwischen hatten noch einige Termine gelegen, in denen sie Fanpost beantworten musste, der Verleger wollte den ein oder anderen Satz mehr für den optisch angenehmeren Druck, die SM-Kanäle mussten gepflegt werden und und und.
Abrupt stand sie auf und verließ ihr Zimmer. Draußen wartete ihre Lieblingsoma, um sie zur Schule zu bringen. Denn heute war Geenas großer Tag. Heute war nämlich Berufetag. Jedes Kind sollte Vater oder Mutter mitbringen, die von ihrer Arbeit erzählten. Und weil Geena ja schlecht ihren Vater mitbringen konnte (Was sollte der schon sagen? »Ja, ich bin König und ich empfehle euch diesen Beruf, weil man dann so wahnsinnig viel in der Weltgeschichte unterwegs ist und lauter Promis kennenlernt«???), musste Tante Alexandra, die Schriftstellerin, herhalten.
Sie langweilte sich zu Tode bei »Hallo, ich bin Kevins Vater, ich bin IT-Spezialist« oder »Hey hey, ich bin die Mama von Renee und Managerin eines kleinen Familienunternehmens«. Da war ihr der Dicke, der jetzt sprach, schon sympathischer. Es war der Vater von Kläuschen, und er hatte viele glückliche Kühe.
Zwick-Zwack klatschte artig und fuhr dann mit ihrem spitzen Zeigefinger langsam die Klassenliste runter. »Geena«, sagte sie dann und verdrehte die Augen. Dann blickte sie wieder geradeaus mit dem verächtlichsten Blick, den sie zur Verfügung hatte (und sie hatte viele!).
»Geena hat uns heute ihre Tante mitgebracht. Die ist 'Schriftstellerin'.« Na, da hätte sie auch gleich auf den Boden spucken können. Jetzt verdrehte Tante Alexandra die Augen. Die konnte das auch gut, klar, sie hatte es ja von ihr gelernt.
»Liebe Kinder!« Die Angesprochenen waren insgeheim schon ein bisschen erstaunt über die Süße in Zwick-Zwacks Stimme, die dick heruntertropfte wie Honig. »Was glaubt ihr denn? Was macht so ein Schriftsteller?«
»Ein Schriftsteller sitzt nur zuhause rum, raucht, säuft und schreibt. Dabei verdreckt seine Wohnung und er stirbt eines Tages an seinem schlechten Lebenswandel.« Das war Renee, die Nachwuchs-Managerin, die eines Tages das Familienunternehmen übernehmen würde und die mit Sicherheit nicht an Dreck oder Leben sterben würde.
Mit Schaudern dachte Tante Alexandra daran, dass die vergangenen Wochen tatsächlich so gewesen waren. Sie hatte vorm PC rumgesessen, etwas aufgeschrieben, war aufgestanden, hatte geraucht, einen Schluck Bier getrunken, sich wieder gesetzt - und gelöscht. Außerdem sollte sie wirklich mal wieder putzen. Aber gesundes Essen war ihr schon wichtig. Sie versuchte den Zeigefinger zu heben.
»Schriftsteller leben nur in ihrer Fantasie, sind arm und kriegen nix auf die Reihe.« Kevin? Ja, Kevin hieß der. Hm, aber dafür verschwurbelte sie sich nicht das Gehirn, weil sie sich immer nur zwischen 1 und 0 entscheiden musste, sondern ein ganzes Universum an Un-Möglichkeiten zur Verfügung hatte. Außerdem war sie noch nie gehackt worden (außer vergangenen Monat von dem blöden Gockel, der daraufhin sein Ende als Broiler fand). Sie fand, dass es an der Zeit wäre, nicht nur den Zeigefinger, sondern vielleicht auch die Stimme zu erheben.
Nur hinter ihr, der kleine Klaus (der übrigens der Urenkel von Oma Wallys Kläuschen war), dachte ganz anders über Schriftsteller. Zaghaft stand er auf.
»Ich glaub, Schriftsteller sind ganz arme Leut'. Die müssen andauernd schreiben, die können gar nicht anders.« Tief seufzend atmete er aus um sein ganzes Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen – und da war viel Mitgefühl in dem kleinen Klaus. Schließlich nickte er und sagte weise: »Ich geh lieber zu meine Küh'...«
Da war er wieder, der Gedankenblitz, und winkte ihr freundlich aus sanften, braunen Kuh-Kulleraugen zu. "Genug" war das Wort, das ihr noch zur perfekten Formulierung gefehlt hatte.